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Aussiedler: Wirtschaftsflüchtlinge oder Vertriebene


Dieser Artikel wurde im Deutschland Archiv Nummer 9, von 1990, Seite 1374 - 1376 publiziert. Das Thema ist nach wie vor aktuell, wie vor allem die Diskussion über das Fremdrentenrecht zeigt. Eine aktuelle Version finden Sie unter:

Aussiedlung und Integration. Motive der Aussiedlung und Verlauf der Integration in Deutschland am Beispiel der Siebenbürger Sachsen


Die Deutschen aus den ost- und südosteuropäischen Ländern werden bei der Einbürgerung anders behandelt als Ausländer. In der letzten Zeit fordern Teile der SPD, allen voran der Kanzlerkandidat Lafontaine, das Vertriebenengesetz abzuschaffen, da es einen Vertreibungsdruck in Ost- und Südosteuropa nicht mehr gebe.

Eine "bevorzugte" Einbürgerung können nur diejengen Deutschen mit anderer Staatsangehörigkeit erhalten, die als Vertriebene anerkannt sind. Für diese Anerkennung reicht die deutsche Volkszugehörigkeit allein nicht aus. Hinzu muß noch der Vertreibungsdruck kommen. Die Betreffenden oder ihre Väter müssen in den Vertreibungsgebieten (Polen, Sowjetunion, Rumänien, Ungarn, Tschechoslowakei, Bulgarien oder Jugoslawien) am 8. Mai 1945 ihren ständigen Wohnsitz gehabt haben. Das beantwortet auch die jetzt häufig in der Diskussion geworfene Frage: Was wäre, wenn alle Amerikaner deutscher Herkunft in die Bundesrepublik kämen? Deutsche, die 1945 ihren Wohnsitz nicht in den Vertreibungsgebieten hatten, und jetzt die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen, würden im Unterschied zu den Deutschen in Ost- und Südosteuropa genau so behandelt wie alle übrigen Ausländer.

Fest steht: Der überwiegende Teil der Deutschen aus den ost- und südosteuropäischen Ländern will - trotz der Umwälzungen im Osten - ausreisen. Worin besteht der Vertreibungsdruck? Wie kam es nach jahrhundertelangem Miteinander und Nebeneinander, in dessen Verlauf Menschen verschiedener Völker und Konfessionen gemeinsam die Grundlagen und Institutionen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa schufen, zu einem Gegeneinander? Wie wurden aus jahrhunderte alten Mitbürgern Vertreter einen auswärtigen und aggressiven Macht ("fünfte Kolonne")? Wieso faßten viele, nicht nur Nationalsozialisten, in unserem Jahrhundert die "Entmischung" von Nationalitäten als ein Allheilmittel auf?

Nationalismus: Vom Miteinander zum Gegeneinander

Die Deutschen waren im Osten keine brutalen Eroberer oder Vertreter einer imperialen Macht, sondern schufen gemeinsam mit anderen Nationalitäten als Bürger übernationaler und überkonfesionneller Staaten die Institutionen und Grundlagen der heutigen mittel-, ost- und südosteuropäischen Welt. Dies muß vor allem deshalb festgehalten werden, weil heute noch immer ein falsches Bild von diesen Vorgängen existiert. Die Grundvorstellung von der Geschichte des Mittelalters und damit auch der Ostsiedlung wurde im 19. Jahrhundert gewonnen, als die Geschichtswissenschaft in einer von nationalen Ideen und Leidenschaften geprägten Zeit entstand. Dabei wurden Begriffe und Wertungen, die dieser Zeit selbstverständlich erschienen, auch auf die Ostsiedlung übertragen. Die Hauptantriebe der Ostsiedlung wurden von der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert in nationalen Zielsetzungen gesucht. Das entspricht nicht der Realität.

Die faktische Ausbürgerung und Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Südosteuropa ist ein Ergebnis des Chauvinismus des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts. Sie vollzog sich in mehreren Phasen: Die erste Phase zeichnet sich durch vielfältige national bedingte Benachteiligungen aus. Sie begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, erreichte ihren Höhepunkt während und nach dem Ersten Weltkrieg und endet 1939. Die Deutschen und deren Gebiete im Osten wurden in dieser Zeit von Vertretern des deutschen Imperialismus und Chauvinismus als "Bastionen" des Deutschen Reiches angesehen. Die Chauvinisten dieser Länder betrachteten sie als "fünfte Kolonne" einer aggresiven Macht. Damit wurden die Deutschen in diesen Ländern Opfer von nationalen Auseinandersetzungen, und gerieten zusehends zwischen alle Fronten.

In der zweiten Phase wurden eine Vielzahl bilateraler Verträge des Dritten Reiches mit ost- und südosteuropäischen Staaten geschlossen, die die Umsiedlung ("Heim-ins-Reich-Aktion") von Deutschen aus den baltischen Staaten, der Sowjetunion, Rumänien, Ungarn, Kroatien, Bulgarien und zum Teil aus Italien zur Folge hatten. Diese Verträge zeigen, wie weit die de facto Ausbürgerung der Deutschen in Ost- und Südosteuropa vor dem Zweiten Weltkrieg fortgeschritten war. Dabei betrachtete sich das Deutsche Reich wie selbstverständlich zuständig für Millionen Deutsche, die seit Jahrhunderten eine andere Staatsbürgerschaft hatten. Diese Zuständigkeit wurde in Folge der allgemeinen Anerkennung des Nationalstaatsprinzip auch von allen anderen Staaten anerkannt.

Die dritte Phase entstand aus dem Zweiten Weltkrieg und bewirkte die Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung. Die Evakuierung seitens der deutschen Organe war nur mangelhaft vorbereitet. Diese Vorgänge forderten über drei Millionen deutsche Opfer in den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie. Darüber hinaus wurden ca. zwölf Millionen Deutsche aus den Ostgebieten, den ost-, mittel- und südosteuropäischen Ländern nach dem Krieg vertrieben. Insgesamt verringerte sich die deutsche Bevölkerung von 17,5 Millionen (1939) auf vier Millionen (1960). Alle geschlossenen Siedlungsgebiete, mit Ausnahme von Siebenbürgens und Banat (beide Rumänien), wurden auf diese Weise vernichtet; die Deutschen lebten weitgehend enteignet, entrechtet und isoliert in der Zerstreuung. Diese Vorgänge haben ein friedliches und normales Zusammenleben der Deutschen mit anderen Völkern in Ost- und Südosteuropa bis heute verhindert.

Die vierte Phase beginnt 1950 und dauert bis heute an. Sie ist durch vielfältige Benachteiligungen der übriggebliebenen gekennzeichnet und führt zur Aussiedlung aus den ost- und südosteuropäischen Ländern. Das Jahr 1949 gilt als das Ende der eigentlichen kriegsbedingten Flucht- und Vertreibungsvorgänge. Die Vertreibung wurde jedoch nicht "gründlich" durchgeführt. Heute (1990) leben in Ost- und Südosteuropa etwa 3,5 Millionen Deutsche.

Motive für die Ausreise

Welche Gründe der Ausreise und Entwurzelung gibt es? Sind die Aussiedler nur enttäuschte und zu kurz gekommene Konsumenten?

Unfreiheit und Armut im Ostblock bilden zwei Motive der Ausreise. Doch diese Motive allein können die Massenpsychose der Ausreise nicht erklären. Die wirtschaftlichen Gründe der Ausreise werden in der öffentlichen Diskussion der Bundesrepublik bei weitem überschätzt. Für den Menschen ist nicht nur die Individualität, sondern auch die Sozialität charakteristisch. Er bedarf einer Wertschätzung, die er nur innerhalb einer Gemeinschaft erfahren kann, und einer kulturellen Entfaltung innerhalb einer Gesellschaft. Nichts anderes bedeutet das viel zitierte und fast ebensooft mißverstandene Motiv für die Ausreise: "Wir wollen als Deutsche unter Deutschen leben." Hierin liegt der Hauptgrund für die Ausreise. Wie alle Umfragen unterstreichen, ist dies das erstgenannte und bei weitem wichtigste Motiv. Dies ist kein Ausdruck des Chauvinismus, sondern weist erstens auf eine fehlende Wertschätzung dieser Menschen in den Staaten hin, aus denen sie kommen, und zweitens auf fehlende kulturelle Menschen- und Gruppenrechte. Seit dem 19. Jahrhundert sind nur die Mitglieder der nationalen Mehrheit gleichberechtigte Staatsbürger, und ebendies bewirkt den Vertreibungsdruck. Den Minderheitenstatus und die damit verbundenen Nachteile wollen die Deutschen durch die Aussiedlung in die Bundesrepublik überwinden. Ohne die faktische Ausbürgerung der Deutschen und die damit einhergehende Zerstörung der religiösen und nationalen Gemeinschaften, wäre diese hohe Zahl der Ausreisewilligen (80 bis 90 Prozent) nicht zustande gekommen. Dieser hohe Prozentsatz ist Produkt eines über fast zwei Jahrhunderte andauernden Nationalismus, in dessen Gefolge die Deutschen aus allen Staaten Europas, ob gewollt oder nicht, in eine Schicksalsgemeinschaft gedrängt wurden.

Vertreibungsdruck besteht nach wie vor

Mit dem Untergang des Kommunismus im Osten wird der Vertreibungsdruck kaum nachlassen. Zwar hat er durch die Reformen in einigen Bereichen (z.B. individuelle Menschenrechte) abgenommen, doch die Hauptursache der Auswanderung wurde eher noch erstärkt. Der Nationalismus, der im Kommunismus trotz gegenteiliger Beteuerungen gefördert wurde, tritt mit einer nicht vorhergesehenen Intensität wieder hervor, vor allem in der Sowjetunion und in Rumänien. Dies verstärkt den Vertreibungsdruck. Er ist primär kein Resultat des Kalten Krieges, sondern des Nationalismus. Die Aussiedlung wird sicherlich noch weitergehen, weil viele dem Umbruch im Osten wenig Chancen einräumen oder an eine Verbesserung ihrer Lage nicht glauben. Das sind die historischen Lehren, die die Deutschen aus jahrzehntelanger Erfahrung ziehen. Ein friedliches Zusammenleben, wie vor dem Entstehen des Nationalismus, wird es in Zukunft kaum geben. So konnte man sich auf der KSZE-Konferenz in Kopenhagen, die Ende Juni 1990 zu Ende ging, nicht über Minderheiten- und Gruppenrechte einigen und vertagte das Problem, obwohl diese Konferenz als großer Erfolg in Sachen Menschenrechte gefeiert wurde.

Fazit: Die Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der DDR sind seit langem anerkannte Partner des Westen bzw. des Osten. Ironie der Geschichte: Vor allem diejenigen Deutschen, die schon immer, also auch zu Beginn des Zweiten Weltkrieges deutsche Staatsbürger waren, sind heute respektierte Partner, während diejenigen, die das damals nicht waren, heute noch aufgrund dieses Krieges benachteiligt werden. Die Deutschen Minderheiten in Osteuropa haben seit dem Zweiten Weltkrieg kaum eine Chance erhalten, als Minderheit zu existieren.

Die Bundesrepublik Deutschland sieht sich als Rechtsnachfolgestaat des Deutschen Reiches und beansprucht, die Interessen aller Deutschen zu vertreten. Um diesem Anspruch auch gegenüber den Deutschen in Ost- und Südosteuropa gerecht werden zu können, richtet sich die bundesdeutsche Außenpolitik nach einem doppelten Fürsorgeprinzip. Das meint zum einen die Verbesserung der Lage derjenigen, die in Ost- und Südosteuropa bleiben wollen, und zum anderen den Ausreisewilligen helfen, in die Bundesrepublik überzusiedeln.

Wenn die Menschen selbst über ihre Zukunft bestimmen, dann müssen die Deutschen in Ost- und Südosteuropa entscheiden, ob sie weiterhin bleiben oder in die Bundesrepublik übersiedeln wollen. Verhindert man durch rechtliche Maßnahmen (Abschaffung des Vertriebenengesetzes) die Aussiedlung, dann wird man zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert in Deutschland beschließen, wie und wo die Deutschen aus Ost- und Südosteuropa ihre Zukunft gestalten sollen, ohne sie zu fragen. Wenn sie selbst entscheiden sollen, dann kann sich die Aussiedlerpolitik der Bundesrepublik nicht ändern und muß weiterhin wie seit über vierzig Jahren zum einen für Bedingungen mitarbeiten, die den Deutschen im Osten wieder zu gleichberechtigten Staatsbürger macht, und zum anderen diejenigen unterstützen, die in die Bundesrepublik kommen. Die deutsche Politik hat seit über 100 Jahren maßgeblich zum Entstehen des Vertreibungsdrucks beigetragen. Und solange es keine Minderheiten- und Gruppenrechte in Ost- und Südosteuropa gibt, behält das Vertreibungsgesetz seine Legitimität.

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